Der Expander des Fortschritts

Der Expander des Fortschritts

Die Choreographien und Drehbücher für 30 Jahre 1989 dürften geschrieben sein. Aber da war mehr: Noch vor dem Mauerfall, dem Infarkt der DDR, erschien in London das Debüt-Album der Ost-Berliner Band DER EXPANDER DES FORTSCHRITTS. Kurz zuvor hatte sich die Band an den Geburtstagsfeierlichkeiten für den DDR-Dramatiker Heiner Müller beteiligt, sein Jahrgang: 1929. Müller war ein Winterkind, geboren im Januar; die Platte des Expanders erblickte im Ausreisesommer 1989 das Licht der Welt. Auf ihr der Bezug auf ein anderes Revolutionsjahr, auf 1919, mit den Zeilen aus Bertolt Brechts Dramenfragment Fatzer:

„du der die ämter beherrscht hast
heize deinen ofen.
du der nicht zeit hatte zu essen
koch dir suppe.
du, über vieles geschrieben ist
studiere das ABC.
beginne sofort damit:
beziehe den neuen posten.“

Ein Brecht-Text, der es nicht in den Literaturunterricht der DDR schaffte. Ebensowenig wie ein anderer literarischer Stichwortgeber des Expanders: Friedrich Nietzsche, der „gottverlassne Pastorensohn“ (Heiner Müller), dessen Gedicht Vereinsamt die Band ebenso vertonte.

Spätestens an dieser Stelle sollte deutlich sein: DER EXPANDER DES FORTSCHRITTS war noch mal anders als „die anderen Bands“ der späten DDR, dem Pop der Subkultur Ost. Er galt als ihr schwer verdaulicher, intellektueller Ausleger, nicht zuletzt ob seines Umgangs mit klanglichem Material, der oft an Arbeitsweisen der musique concrète erinnerte und damals von Bands wie CASSIBER (Heiner Goebbels, Chris Cutler, Alfred 23 Hart) oder den amerikanischen RESIDENTS inspiriert war. Der Expander plünderte munter Schallplattenarchive, schnitt Nachrichtensendungen mit, montierte Versatzstücke aus Filmmusiken, ließ eine Passage aus Anton Bruckners 8. Sinfonie im Loop laufen, vertonte Heiner Müllers Drama Herzstück etc. Auf den Konzertbühnen stand stets ein Kassettendeck, über das der Zugriff auf bereits fixiertes Medienmaterial geregelt wurde.

Die „verwirrten Verwirrer“, so eine ihrer Eigenbezeichnungen, veröffentlichten ihr Debüt nicht von ungefähr auf Chris Cutlers Label Recommended Records, einer damals bereits legendären Heimstatt für ausgefallene Musik, welche durchaus eingreifen wollte. DER EXPANDER DES FORTSCHRITTS machte Experimentalchansons für Bücherwürmer. Mit Mario Persch hatte das Quintett einen Lyriker an Bord, der die Ostberliner Endzeit in Texten festhielt, die so expressiv wie melancholisch geraten konnten. Spätherbst / Abseits ist einer davon:

„Nachts wie aus Särgen schlüpfen aus Parklücken Autos
Telephone klingeln in dunkle Zimmer

Vor Schaufenstern patrouillieren Passanten
Im Metrum der Schneefälle Weihnachtsmusik

Über den Städten ein Kosmos aus Kälte
Bier schießt aus Kellern ins vorletzte Glas.“

Der Expander vertonte Christoph Hein und Heinrich Heine, DDR-Gesundheitsdidaktik und Verse aus der Edda. Ein weiteres Album und eine Tape-EP erschienen noch 1990, dann war erstmal Schluss mit der Band, an die sich der Komponist und Musiker Heiner Goebbels noch heute gerne erinnert.

Knapp 30 Jahre später gibt es den Expander wieder. Agieren, verschwinden, auftauchen: „Vielleicht ist unsere Musik Ergebnis einer Weltsicht aus der Partisanenperspektive“, hieß es im Beiblatt eines ihrer Tapes. Zum erneuten Auftauchen gehört ein Interview von Alexander Pehlemann mit Expander-Mitbegründerin Susanne Binas-Preisendörfer im Almanach ZONIC 2009 wie ein Expander-Beitrag auf Henryk Gerickes Compilation mit ostdeutschem Undergroundsounds der Jahre 1979–1990 Ende vom Lied, erschienen anlässlich der von Christoph Tannert kuratierten Ausstellung Gegenstimmen – Kunst in der DDR im Martin-Gropius-Bau Berlin 2016.

Im Herbst 2017 wurde der Expander gebeten, während Jubiläen, Verabschiedungen und dem KEHRAUS auf dem Alten Markt in Potsdam aufzuspielen, von der Bühne der Blick auf Trak Wendischs Seiltänzer, der die Besucher*innen über dem Eingang ins Museum Barberini zur Ausstellung Hinter der Maske – Künstler in der DDR begrüßte. Von der Akademie der Künste Berlin wurde Susanne Binas-Preisendörfer im Frühjahr 2018 gebeten im Rahmen der Ausstellung Improvisation und Underground einen Vortrag zum Thema Historiografien des (musikalischen) Undergrounds zu halten.

Agierend in dichten Klängen und über Ein- und Ausschlüsse der (Pop-)Kulturgeschichtsschreibung nachdenkend, trieben Teile des alten Expander zurück auf die Bühne, ins Kreuzberger Westgermany z.B., ein Risiko, ein Experiment. Es gelang mit der Unterstützung der nachfolgenden Generation.

Wenn der Expander 2019 wieder auftaucht, dann nicht mehr „nur“ im Sinne eines reenactments, sondern mit mindestens einem Hörstück in Anlehnung an Fatzer komm oder Oh Mond oder Teilen aus dem Hörspiel Mauser.,

Kürzlich erschienen ist Stephan Pabsts und Johanna Bohleys Sammelband Material Müller (Verbrecher Verlag). Darin nimmt der Berliner Autor Robert Mießner diverse HeinerMüller-Vertonungen unter die Lupe, darunter natürlich die des Expanders. Der sich selbst auf die Fahne schrieb: „Der Popsong ist eine geniale Kulturleistung und steht gleichrangig neben so imposanten Phänomenen wie dem Faustkeil und der Pfandflasche“. Dies ist keine Seminarvorladung, sondern die Einladung zu einem Abend aus Gespräch und Musik. Mit dem Expander und über Müller, über ein 1989, 2019 jenseits der Staatsaktionen.
 

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Der Expander des Fortschritts by Tina Bara, Der Expander des Fortschritts by Susanne Schleyer

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