pier
Donnerstag, 22 Juni, 2006 - 22:00
Pierre singt seinen Lied
Pier singt seinen Mord
Schrift und Inszenierung von Massimo Dean.
Musikalische Kreation und Live Musik von Marco
Brosolo.
Spiel von Eric Antoine.
Aufgenommene Stimme von Vincent Guédon.
Im Jahre 1835 in der Normandie tötet ein junger Bauer,
den man für einen Dummkopf hält, seine Mutter, seinen
Bruder und seine Schwester mit einer Hippe, um den
Vater von den Verfolgungen seiner Frau zu befreien.
Nach einem Monat Umherirren wird er verhaftet und er
schreibt ein Memoire, wo er die Geschichte seiner
Familie und die Begründung seines Benehmens erklärt.
Dieses Memoire, eine unglaubliche Erzählung, ist eines
Gedicht von Dostojevski würdig. Es ist alles außer das
Werk eines Wahnsinnigen . Weit davon, dem Zweifel der
Richter eine sinnträchtige Antwort zu geben, stellt er
sie vor einer großen Frage: was ist der Wahnsinn? Sehr
schnell kommt der Fall Rivière über die Grenzen der
blutigen Tat hinaus.
Er wird ein symptomatischer Augenblick im Machtspiel
der Richter und der beginnenden psychiatrischen
Medizin. In diesem Teil der Erzählung kommt die
Protagonistenfigur schließlich in den Hintergrund.
Zwischen dem Kriminalgericht einerseits, das mit dem
Schatten der Guillotine droht und der medizinischen
Isolierung andererseits eingeengt, begeht Pierre
Rivière Selbstmord, indem er sich in seiner
Gefängniszelle erhängt.
1973 hat Michel Foucault mit seinen Mitarbeitern des
Collège de France einen Text veröffentlicht, mit dem
Titel : „Ich, Pierre Rivière habe meine Mutter,
meinen Bruder und meine Schwester erwürgt.“ Es handelt
sich um eine Sammlung von Urkunden, die 1836 über den
Fall Rivière in den Annalen der Öffentlichen Hygiene
und Gerichtsmedizin herausgegeben worden sind :
- eine Reihe von medizinischen Berichten über den
geistlichen Gesundheitszustand von Pierre Rivière, die
sich anscheinend widersprechen, was die
Schlussfolgerung sowie die Analysenrichtungen
betrifft,
- eine Gesamtheit der Gerichtsakten, darunter die
Beschreibung der Zeugen, Einwohner eines kleinen
Dorfes der Normandie, die man über das Leben, den
Charakter, das Benehmen, den Wahnsinn oder Dummheit
des Mörders, gefragt hat,
- Zeitungsartikel dieser Epoche über den Mord,
- schließlich und vor allem das Memoire, vom Mörder
selbst geschrieben, also einem 20jährigen Bauer, der
behauptete, kaum lesen und schreiben zu können.
2005
Pier, bist du es ?
Kleiner Mann vom Lande, einem rauen und grausamen
Land, selbst Richter und Beurteilter. Ein mörderisches
Land.
Warum sollte man noch von ihm sprechen? Warum? Weil du
es bist !
Pier Rivière auch nur für einen Tag zu sein, ist gar
nicht verboten. Dir ein ganz verändertes Leben
vorstellen, nur durch eine kleine Tat.
Als ob deine Kindheit etwas Abscheuliches in sich
tragen würde. Als ob deine ganze kleine Tat sich zum
mörderischen Piranha verwandeln würde, wie eine
Liebeserklärung sich verwandelt.
Als ob, als ob, als ob. Und wenn man wirklich
versuchen würde, auch nur für einen Tag, Pier Rivière
zu sein.
Meine Kindheit ist so wie Ihre vergangen, keine
Ausnahme, nichts Außergewöhnliches. Mein Benehmen wie
Ihres. Jedes Spiel ein unschuldiges
Spiel. Jedes Wort ein unschuldiges Wort. Ich liebe,
ach ja, ich hatte es vergessen. Für mich ein ganz
normales Gefühl, aber für Sie unglaublich.
Was können wir für diese Liebe tun? Reisen, so weit
weg reisen, dass das Ziel nichts anderes ist als die
Hölle. Aber die Hölle ist ein geheimnisvoller Ort,
der Angst schafft. Niemand wagt sich dahin.
Ich bin wieder allein. Verlassen, beurteilt. Das kann
einem seltsam vorkommen, aber diese Einsamkeit, die
Sie mir gegeben haben, hat mir Flügel geschenkt.
Träumen. Sanfte Melodien begleiten mich in diesem
Flug. Gewöhnliche, so gegenwärtige Melodien, dass ich
sie verwirklichen musste. Melodien, die mich bis ins
Tiefste begleitet haben. Melodien, dicht bis zum
Kenntniswerden. Ich habe keine Angst. Nein, ich habe
keine Angst mehr.
Freiheit. Einzige belebende Kraft, die ich kenne. […]
Die Freiheit ist ein endloses Abendteuer, in dem wir
unser Leben riskieren und noch mehr, für einige
Augenblicke, wo „etwas“ über Worte und Gefühle ragt.
Und endlich singe ich. Ich singe, ich singe. […]